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Kultur ist lebenswichtig, nicht systemrelevant.

 

Leitartikel aus der aktuellen BTR

 

 

Fragment einer Zeit

 

 

Wir haben uns in der Redaktion der BTR entschieden, den Sonderband, der gewöhnlich zur BTT erscheint, auch erst dann zu veröffentlichen und das aktuelle Heft im Wesentlichen den Ereignissen der letzten Wochen und Monate zu widmen. 

Beim Verfassen dieser einleitenden Zeilen habe ich mich wirklich einsam  gefühlt. Nun sind es mehr Gedanken und Tagebucheinträge geworden als ein frischer fließender Text, aber ein Abbild einer besonderen Zeit mit durchaus optimistischen Gedanken eines Theatermenschen.

 

 

Kultur ist lebenswichtig, nicht systemrelevant. Sie wird zuerst in den Schlaf gelegt und wacht zuletzt auf. 

Das war uns klar, als die Theater ins Koma gelegt worden sind. Es war eine richtige Entscheidung. Daran besteht kein Zweifel.

 

 

Montag, der 20.04.2020

Man hat Sysiphos den Stein weggenommen und er rennt den Berg weiter hoch und runter, wie er es gewohnt ist. 

So kommt es mir gelegentlich vor, bei den hitzig geführten Diskussionen zur schnellen Wiedereinrichtung des vergangenen Status quo und da spreche ich nicht nur von Veranstaltungen. 

Nun sollte man mich auf keinen Fall falsch verstehen: Ich möchte Theater und Veranstaltungen vielfältig und bunt wieder zurück haben! 

Aber ich möchte die historische Gelegenheit nutzen, um kurz innezuhalten und zu fragen, ob wir alles wieder so machen müssen wie vorher? Das betrifft die Abläufe in einem modernen Veranstaltungsbetrieb, den Umgang mit den Menschen im Theater und die Anforderungen, die die Wiederaufnahme des Spielbetriebs nach einer Pandemie erfordern. Wie immer gibt es nicht die Antwort, schon gar nicht auf die vielen Fragen, die damit einhergehen. 

 

Besondere Situationen erfordern ein besonderes Vorgehen und die Theatermenschen werden *wieder* an einer Stelle gefordert, für die es bis dato keine Regel gegeben hat. Wir kreieren Prototypen und wollen das große Ereignis. Wir können ohnehin nicht nach Vorhandenem rufen. Das sind wir gewohnt.

 

Gerade in einer Zeit, in der wir viel und offen über die Entwicklung des Theaters und der Menschen sprechen, zwingen wir den Ort zu Stillstand und zur Minimierung des gemeinsamen Erlebnisses. 

 

Was sollen wir also tun, vor die neue Situation gestellt?  Zuschauerräume mit 600 Plätzen, mit 150 Menschen zu füllen. Das ist schon die positive Menge an Leuten, die man sich vorstellen kann.

Die jetzt bestehenden Regeln müssen individuell und nach Gefahrenlage analysiert und für das jeweilige Haus, das Stück oder eine spezielle Veranstaltung konzeptioniert, der jeweiligen Stuation angepasst und umgesetzt werden.

 

Das kann man nicht einzelnen Personen aufbürden. Man muss die vorhandenen guten Strukturen der Häuser nutzen und einvernehmliche Lösungen mit allen Beteiligten und Institutionen erarbeiten. Das ist ein komplexes Thema, das man nur schwierig eingeordnet bekommt. Es sieht fast aus wie ein Reigen an Ereignissen und Handlungen, die sich gegenüberstehen.

 

Mit anderen Worten: Verstand einschalten, Verantwortung übernehmen. 

 

Montag, der 27.04.2020

Die VBG bringt ein Papier auf den Weg, wie man schrittweise wieder in einen Probenprozess einsteigen kann. Eine Handlungsempfehlung, 5 DIN A 4 Seiten mit einer Aufregerzahl: 12 Meter Abstand für einen Musiker mit Blasinstrument in Blasrichtung, zur Vermeidung von Aerosolen in Räumen. 

Das darf diskutiert werden und wird es auch. Unterschiedliche Gutachten kommen zu unterschiedlichen Zahlen. Nicht jedes ist große Literatur:

 

"Grundlegendes Interesse besteht auch hinsichtlich der Wirksamkeit von Gesichtsmasken. " 

Ein nobelpreisverdächtiges Mysterium wird entschlüsselt oder schreibt man das aus Verlegenheit, weil die Eile der eingeforderten Meinungen eine Öffnung der Kulturorte beschleunigen soll?

 

Es entstehen viele Gutachten, soviel kann man sagen.

 

Die Diskussion wird um die Sicherheit der Mitarbeitenden auf und hinter den Bühnen geführt, natürlich auch um die Sicherheit des Publikums. 

Abstände , Kreisschläge und Logistik. Hygienemaßnahme und Anweisungen zur Toilettenbenutzung. Alle sehr gut gemeint, oft sinnig und verantwortungsvoll. Eintrittskarten zum Scannen ohne Berührung. Die Kassen wie in Supermärkten mit Plexiglas. Kein Plexiglas auf der Vorbühne als Spuckbremse.

Sänger singen Aerosole, feinste Flüssigkeitskörper, bis zu 14 Meter weit, wenn es die Stimme hergibt. Bläser sollen das auch können, was sich nicht bestätigen lässt.

 

Sonntag, der 03.05.2020 

Wir müssen die BTT in Ulm auf den 28. und 29.Oktober verschieben.

Veranstaltungen dieser Größenordnung sind nicht verboten, aber weder die DTHG noch die Partner der BTT wissen ob es Zimmer und Hotels oder eine funktionierende Gastronomie gibt. Viele Menschen und Firmen signalisieren, dass sie den Termin im Juni mit Sorge entgegen sehen. Theater untersagen Dienstreisen für Mitarbeitende. Wir brauchen Planungssicherheit. Hier auch.

 

Mittwoch, der 06.05.2020

Wahlkämpfer Armin Laschet macht den Schritt auf die Kulturmenschen zu und möchte Theater und Konzerte wieder möglich machen ab dem 30.05.2020. Eine Schrecksekunde für viele Theatermenschen, vor allem für die technischen Direktionen, die das weitestgehend organisieren sollen.

Einige Häuser haben ihre Spielzeiten schon beendet und Pläne, innerhalb von drei Wochen ein funktionierendes Sicherheitssystem auf die Beine zu stellen, sind noch nicht zu Ende gedacht. Man denkt in Richtung September, und das ist sicher auch gut gedacht. 

 

Bei allen berechtigten Wünschen nach einer schnellen Öffnung der Theater und bei allen oftmals gut gemeinten Initiativen zur Rückgewinnung eines aktiven Kulturlebens fehlt mir eine Frage zum Thema:

Werden die Leute kommen? 

Die Menschen werden die Theater nur wieder aufsuchen, wenn sie sich sicher fühlen. Das muss ermittelt und  vermittelt werden. Auf und hinter den Bühnen sowie in dem Publikum, dass sich nach strengen Regeln zu einem Ereignis aufmacht. 

Wie sicher fühlt man sich, wenn nur jeder dritte Platz besetzt ist, ein klares Procedere zur Nutzung der Toiletten mit zwischenzeitlicher Desinfektion vorhanden ist und das Hauspersonal einen mit Masken auf einer Wegführung wie am Flughafen in Empfang nimmt?

Haben die Menschen ausreichend Vertrauen und ist das Infektionsgeschehen soweit abgeflacht, dass die Angst vor einer Erkrankung hinter den Wunsch nach Kultur zurücktritt?

Auch die Künstler*innen und Mitarbeiter*innen müssen sich sicher fühlen. Eine Sängerin, die Angst hat sich anzustecken, bringt keinen oder was noch schlimmer ist, wohlmöglich nicht die richtigen Töne raus. Das gilt für alle. Jede Abteilung muss den richtigen Ton treffen.

 

Donnerstag, der 07.05.2020

Das dynamische Papier der Empfehlungen der VBG erscheint bereits in der zweiten korrigierten Fassung mit angepassten Abständen und teilweise geänderten Anforderungen. Die DTHG lädt zu Video Meetings zum Thema ein. Dort wird viel diskutiert und der Austausch tut gut. Klar wir aber auch, dass die Bandbreite der Wünsche von guten Konzepten der Häuser bis zu blindem Aktionismus reicht. An eine Aufnahme des normalen Spielplans ist in den meisten Fällen nicht zu denken. Da hilft es auch nicht, mit den Fuss aufzustampfen. Tief durchatmen hilft.

 

Im Deutschlandfunk sagt ein befragter Strassenhändler: “Wer gesund ist kann irgendwann alles nachholen, wer tot ist nicht.”  

 

Freitag, der 08.05.2020

NRW bringt eine Verordnung zu den versprochenen Öffnungen heraus. Die Kultur ist in Paragraph 8 beschrieben.

 

In geschlossenen Räumen sind Theater und Konzertveranstaltungen bis auf weiters untersagt...bis 100 Personen können in Ausnahmefällen und bei entsprechenden Hygienekonzepten für Aufführungen zugelassen werden, drinnen wie draußen.

Proben in “atmungsaktiven” Fächern- das Wort kenne ich sonst nur im Zusammenhang mit Regenjacken- wie Gesang oder die  Proben mit Blasinstrumenten, sind in Gruppen untersagt. 

 

Die Spielsituation

 

En Suite oder Repertoire oder geht beides? Die Leitungen und Abteilungen der Theater müssen sich zusammen mit dem Betriebsrat, den Fachkräften für Arbeitssicherheit und Betriebsärzten Gedanken machen, wir sie einem Spielplan für die Zukunft aufstellen wollen. Wahrscheinlich ist es schlauer, sich mit  kleinen Formaten auseinanderzusetzen, die es in ebenso kleinen nicht wechselnden Teams ermöglichen zu proben und zu spielen. Das betrifft auch die Schichtwechsel der technischen Abteilungen, die anders als in Betriebsvereinbarungen festgehalten angewendet werden könnten, um die Mitarbeitenden gesund zu halten. Das soll nicht für immer sein, aber sollte immer für die Mitarbeitenden entschieden werden und nicht nach Formalie oder Aktenlage. 

Die Menschen stehen zu ihren Theatern. Häuser mit gut strukturierten Teams  werden es leichter haben.

 

09.05.2020

Die Restaurants öffnen auch wieder. Ich gehe nicht hin. Einen Gutschein meines Lieblingsrestaurants in Oldenburg kaufe ich, um ihn zu verschenken. 

Selbst habe ich keine Lust auf einen einsamen Zweiertisch und serviertes Essen mit Maske und Gummihandschuh. Ich weiß, dass die Restaurants keine leichte Zeit haben. 

 

14.05.2020

Eine kleine Stadt beschließt, sich ein Theater mit integriertem Digitalzentrum zu bauen. Mutig und lobenswert!

Dazu eine wird eine Stadtratssitzung anberaumt mit persönlicher Anwesenheit. Ich bin eingeladen und fahre hin, obwohl ich kein gutes Gefühl habe und acht Wochen bei solchen Treffen nicht dabei war. Komische Normalität.

Ein großer, sehr neuer Saal wird mit  100 Tischen in Abstand von zwei Metern großzügig ausgestattet. Ich bin sehr früh da, die Luft ist stickig im Raum. Der Haustechniker sagt, das er für 100 Leute die neue Lüftung nicht anstellt. Er tut es dann trotzdem, auf mein energisches Einschreiten hin. Vor meinem geistigen Auge hatten sich die Aerosole während der Sitzung bereits in dicke graue Wolken verwandelt. Eigentlich sollte ein Haustechniker wissen, dass ein unbelüfteter Raum gerade jetzt Luftaustausch benötigt. 

Die Ratsmitglieder trafen ein. Groß war die Freude des Wiedersehens und eng die Vertrautheit und die Distanzen. Ich setzte ganz vorsichtig meine Maske auf. Fazit: Tische, Abstände, erst recht  Sicherheitspapiere und Empfehlungen: Sie müssen gelebt werden und die Ziele müssen verstanden werden. Klappt noch nicht allerorts.

 

18.05.2020

Zeitgleich erscheinen zwei Nachrichten zum Thema “Blasinstrumente” und Verbreitung einer Infektion auf meinem Desktop.

1.Aerosole sind wohl Hauptauslöser der Infektion und man sollte mit äußerster Vorsicht Singen oder laut Sprechen. 

2. Eine Praxisstudie stellt fest, das Blasinstrumente kaum Aerosole freisetzen, die Abstände daher klein sein  bzw. ganz wegfallen können.  

 

16.00 Uhr 

Deutschland ist die schlechteste Diktatur der Welt. Sie lassen hier Menschen, die für Demonstrationsfreiheit und ihre Grundrechte eintreten, einfach gewähren. Keine Panzer, keine Gummiknüppel, nur Polizisten die verzweifelt versuchen Leute zu beruhigen, die Winnetou für einen unterirdisch agierenden Blutsauger im Dienste fremder Mächte halten.

 

16:15 Es macht sich Fatalismus breit. Der Blutverlust macht zusätzlich müde.

 

Soweit die Lage bis dahin..

 

Betrachtet man die Situation etwas weniger aufgeregt und im Hinblick darauf, dass wir die Theater und die Kulturlandschaft  nicht nur kurzfristig wiedereröffnen, sondern auch langfristig erhalten wollen, kann man sich durchaus wieder einigen Punkten zuwenden, die nun deutlich mehr an Bedeutung gewinnen müssen.

 

Ein langfristiges Konjunkturprogramm

 

Viele Häuser sind in keinem guten Zustand und das ist nicht neu. Die Bausubstanz und die Arbeitsplätze sind wenig weiterentwickelt worden und man könnte befürchten, dass sich nach Corona daran nichts ändert, weil die Theatermenschen froh sein müssen, dass sie wieder spielen dürfen und die Kassen der öffentlichen Hand durch die Pandemie  überstrapaziert worden sind. Da muss wieder gespart werden.

Ein grundlegend falscher Ansatz.

 

Theater und Kulturorte sind genau die Orte einer aktiven Stadtgesellschaft, die es mit modernsten Mitteln  und besten Technologien auszustatten gilt, will man die Digitalisierung beschleunigen und den Klimawandel stoppen. Sie sind die Gebäude, in denen wir modernste Technologien ausprobieren und entwickeln können. 

Technologien, die nicht nur nachhaltiger sind und energieeffizienter Arbeiten, sondern auch wirksam saubere Atemluft bereitstellen können. Gerade aktuell neben vielen wichtigen organisatorischen Fragen, auch ein wichtiger Aspekt des Infektionsschutzes.

Vor 100 Jahren waren Theater genau diese Labore in den Städten. Exponierte Gebäude mit vielen Menschen unterschiedlicher Berufe und Anforderungen. Die Erkenntnisse lassen sich in überall anwenden, wo gebaut wird, überall dort wo moderne Lebens- und Arbeitswelten entstehen sollen.  Wenn es hier gelingt, dann überall!

 

Warum fangen wir also nicht an?

 

Die Theater haben sich in den ersten Wochen nach Corona mit digitalen Formaten überboten. Jeden Abend konnte man einfache Mitschnitte bis hin zu genialen digitalen Ereignissen erleben. Die Information war klar. Es gibt uns noch und wir sind im 21. Jahrhundert angekommen. 

Kunst ist immer bestrebt, das Besondere zu kreieren. Die Gemeinschaft von Menschen aus Kunst und Technik wirkt. Der Ensemblegedanke ist Grundlage des gemeinsamen Entstehens und kann wegweisend für die Gesellschaft sein. 

Aber es gibt noch mehr: Virtuelle Bauproben, Augmented Reality in der Sicherheitskette, Streaming- und Cloud Plattformen mit sicheren (Daten-) Übertragungsformaten ermöglichen neue Formen der Zusammenarbeit und der Kommunikation der Häuser. Diese Projekte laufen weiter und sind mehr im Fokus als zuvor.

 

Das muss gefördert werden. 

 

So wie wir aktuell am analogsten aller Orte Verantwortung für die Menschen übernehmen müssen, so können wir die Kulturorte inmitten einer Stadtgesellschaft parallel weiterentwickeln und die besondere Situation als Chance empfinden, nicht ausschließlich als Krise.

Menschen, Berufe und Technologien müssen weiterentwickelt werden. 

Das Theater ist ein Marktplatz in dem sich viele Menschen versammeln für ein gemeinschaftliches Erlebnis. Das werden wir wieder tun. Jetzt ist aber der Zeitpunkt um an diesem Ort zukünftige Strategien zu erfinden und zu Handelnden zu werden, die sich Herausforderungen, aktuellen und langfristigen, offen stellen.

 

Die Spanische Grippe tötete mehr Menschen als der zweite Weltkrieg und war dennoch der Einstieg in das wilde Leben der zwanziger Jahre mit vielen großartigen Ideen in Kunst und Architektur. Sie war aber auch der Einstieg in den größten Wahnsinn der Menschheit. Ein schmaler Grat.

 

Unser interdisziplinärer Kosmos ist mit seinen vielfältigen Menschen und Berufen ist ein perfekter Hotspot positiver Möglichkeiten, nicht infektiöser Ansteckungen. 

 

Für den Augenblick ist ein ruhiger Moment wahrscheinlich zielführender als Aktionismus.  Eine gute Zeit, innezuhalten und überlegt zu Handeln, sowohl was das aktuelle Geschehen angeht, als auch die Gestaltung der Zukunft.

 

Man muss ja beim “Abwarten und Tee trinken” nicht das Denken aufhören. Die Wege für die Kulturorte sind bereits eingeschlagen, wir müssen sie nur weiter gehen. 

 

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