GRÖSSER ALS DIE BÜHNE
TANJA KRISCHER UND WESKO ROHDE IM GESPRÄCH
Wiechern: Frau Krischer, Herr Rohde, bei Arbeit am Theater denkt man zunächst an die Darsteller auf der Bühne. Zu einem gelungenen Abend gehört aber weitaus mehr – wer wirkt aus dem Hintergrund mit?
Krischer: Eine Vielzahl von Personen in Verwaltung, Kunst und Technik wirken an einer Produktion mit. Wie viele Personen an einer Inszenierung beteiligt sind, ist kaum einem Besucher klar. Und viele Berufe würde man im Theater gar nicht vermuten oder man hat noch nie davon gehört, wie z. B. vom Inspizienten, Repetitor, Rüstmeister. Was machen diese Personen und wie tragen diese vielen Personen zum Theaterbetrieb bei, sind häufig gestellte Fragen. Das Theater ist zudem ein angesehener Ausbilder für viele Berufe. Viele handwerkliche Berufe, die immer seltener werden, werden hier noch ausgebildet, so z. B. der Damen- und Herrenschneider (einschließlich der Vermittlung aller Stile und Epochen), Modisten und Schuhmacher. Berufe der Veranstaltungsbranche sind im Theater zu finden, wie die Fachkraft für Veranstaltungstechnik und neuerdings auch Berufe wie der Mediengestalter Bild und Ton und Lichtdesign. Klassische Berufe der Theaterbranche sind die Masken- und Bühnenbildner. In der Broschüre »Berufe am Theater«, die der Bühnenverein bereits seit Jahren herausgibt, werden knapp 60 Berufe vorgestellt und Ausbildungsmöglichkeiten erläutert. Der Prozess »Von der Idee bis zur Aufführung eines Theaterstücks« ist spannend und durchläuft viele Phasen mit unterschiedlichen Beteiligten.
Rohde: Das Theater ist die größte Ensemblekunst, die wir kennen, und dadurch immer eine großartige Teamleistung und gelebtes Miteinander unterschiedlichster Berufe. Das Verständnis füreinander und die Kultur im Umgang miteinander machen Theater erst möglich.
Wiechern: Das Theater als Veranstaltungsort bietet dementsprechend vielerlei Berufschancen, ein großer Teil kann im Dualen System ausgebildet werden. Welche Vorteile bringt die Ausbildung im Theater?
Krischer: Die Arbeit am Theater ist vielseitig, äußerst kreativ und sehr produktiv. Durch die Ausbildung am Theater ist über die Vielzahl unterschiedlicher künstlerischer Ansprüche ein besonderer Praxisbezug möglich. In der Spielzeit 2015/2016 gab es 67.257 Veranstaltungen in den öffentlich getragenen Theatern (Stadt-, Staatstheater und Landesbühnen), 5.500 Inszenierungen davon 2.945 Neuinszenierungen, das sind ca. 20 Neuinszenierungen pro Haus in einer Spielzeit. Viele Gewerke sind in den Theaterprozess eingebunden, man lernt dadurch nicht nur den eigenen Beruf kennen, sondern auch andere. Eine enge Abstimmung ist äußerst wichtig, damit alles funktioniert. Die Ausbildung im Theaterbetrieb wird als qualitativ sehr hochwertig angesehen, sodass Ausgebildete auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt sind. Neben der gesamten Veranstaltungsbranche interessiert sich auch die Wirtschaft insbesondere für technisches Personal, das aus dem Theater kommt. Sehr zum Leidwesen der Theater. Wir müssen dafür sorgen, dass das Theater auch nach der Ausbildung ein attraktiver Arbeitsplatz bleibt. Theater müssen so aufgestellt werden, dass sie gegebenenfalls über den eigenen Bedarf hinaus ausbilden können. Gerade in den künstlerischen Professionen, wie Herren- oder Damenschneider und Modist, besteht die Gefahr, dass die Berufe sonst aussterben. Dass das nicht passiert, sollte nicht nur in der Verantwortung der Theater stehen.
Rohde: Die Veranstaltungsbranche steht traditionell für Prototypen. Neuen Konzepten den Weg zu bereiten, ist die Urkraft künstlerischen Handelns –technische Innovationen zu nutzen, ist für die Branche geradezu verpflichtend. So hielt der technische Fortschritt seit der Zeit des Barocktheaters regelmäßig Einzug ins Theater. Zuerst mit Seiltechnik aus der Segelschifffahrt, später mit wechselnden Neuerungen, der Zeit entsprechend. Vom Gaslicht bis zur Erfindung der elektrischen Lampe, in Theatern wurde der Einsatz an erster Stelle gepflegt. Mitarbeiter und Auszubildende mussten sich immer diesen Anforderungen stellen und kreativ in die Zukunft denken. Eine festgelegte Ausbildung bekommt auf dem Weg immer größere Reife durch stetige Neuerfindung einzelner Ausbildungsziele. Wir reden nunmehr immer von lebenslangem Lernen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Ausbildung nur der erste Schritt eines Berufslebens ist. Das ist heute im Rahmen sich stets verändernder Anforderungen und technischer Neuerungen mehr denn je notwendig. Das Tempo, mit dem die Kreativen in Kunst und Technik an der Umsetzung besonderer Erlebnisse arbeiten, hat sich rasant erhöht. Aber genau hier liegt auch die Besonderheit und Attraktivität der Berufe. Der Unterschied zur freien Wirtschaft ist die Definition des Ziels: Kunst. Das besondere Ereignis mit einem Höchstmaß an Sicherheit für Mitwirkende und Zuschauer, bei gleichzeitiger besonderer Impression durch das künstlerische Event. Künstlerische und künstlerisch-technische Berufe werden deshalb auch immer etwas mit Berufung zu tun haben.
Wiechern: Wer in Kultur und Medien Karriere machen möchte, muss sich oft rechtfertigen. Die Annahme: brotlose Kunst, unsichere Zukunft, schlechter Verdienst – trifft dies auf die von Ihnen genannten Berufsprofile zu?
Rohde: Die Zukunftschancen sind vielfältig und anspruchsvoll. Die Möglichkeit zu selbstständigem Arbeiten, der Mitwirkung an kreativen Prozessen und der Teamgedanke schafft für die Mitarbeiter ein hohes Maß an persönlicher Identifikation, die die teilweise ausbaufähige Vergütung wieder wettmacht.
Krischer: In den öffentlich getragenen Theatern sind über 39.000 Personen fest angestellt. Zudem gibt es viele Freischaffende. Die Zahl ist seit einigen Jahren stabil. Da aber immer mehr produziert wird, besteht der dringende Wunsch, wieder mehr Personal fest einzustellen. Die Arbeit am Theater entspricht in der Tat keinem regulären Nine-to-Five-Job, Wochenend- und Abenddienste gehören dazu, was Auswirkungen auf das Privatleben hat. Allerdings verschieben sich in der gesamten Arbeitswelt immer weiter die Grenzen, auch Supermärkte sind teilweise bis 24 Uhr geöffnet. Wer sich für die Arbeit am Theater entscheidet, tut dies in erster Linie, weil er den künstlerischen und kreativen Prozess liebt und diese Herausforderung sucht. Den oft genannten Theatervirus gibt es wirklich. Wer ihn hat, kommt meist nicht mehr davon los. Andererseits sehen wir schon, dass der vielerorts registrierten Selbstausbeutung auch Grenzen gesetzt werden müssen. Die gibt es natürlich in Form von Arbeitszeitgesetzen und Ähnlichem. Darüber hinaus gibt es natürlich Dinge, die sich verändern und weiter verändern müssen, um den Arbeitsplatz Theater attraktiv zu machen – die Diskussionen, die in der Wirtschaft über die Arbeitswelt geführt werden, machen auch vor den Theatern nicht halt. Arbeitszeiten, befristete Verträge und die Bezahlung sind Themen, die im Theater kritisiert und diskutiert werden. Aber auch die technische Ausstattung wird oft bemängelt. Der Deutsche Bühnenverein arbeitet hier zusammen mit den Trägern der Theater, den Theatern, den Gewerkschaften und den Künstlern sowie anderen Verbänden wie der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft (DTHG) daran, Lösungen zu finden. Denn es geht uns allen um den Erhalt der Institutionen. In vielen Bereichen ist das Theater aber auch gut aufgestellt, so steht die Sicherheit immer im Vordergrund. Aber auch für die Gesundheit der Mitarbeiter wird einiges getan. Zudem spielen immer mehr Dinge wie Konfliktmanagement und Firmenphilosophie, Nachhaltigkeit, Werte und ethische Regeln eine Rolle. Und die Ausbildung genießt im Allgemeinen einen guten Ruf.
Rohde: Aber wir müssen uns auch um die Substanz der oftmals denkmalgeschützten Kulturbauten kümmern. 80 Prozent der Häuser sind nicht mehr auf dem Stand moderner Arbeitsstätten, nicht wenige sind baufällig. Das Weltkulturerbe Theater braucht richtungsweisende Entscheidungen zu Erhalt und Erneuerung der Häuser. Die Politik muss den Nutzern die Möglichkeit geben, endlich den Bedarf der Theater zu ermitteln, um Arbeitsplätze und viele bedeutende Kulturorte für die nächsten Generationen erhalten zu können. Die Theaterbauten benötigen Pflege, Sanierung und Innovation. Die Planer und Architekten müssen die Möglichkeit erhalten, diese besonderen Bauwerke der letzten Jahrhunderte unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten, die möglicherweise mit einer Nachkriegsbauordnung und allgemeinen Normungen nicht hinreichend beschrieben werden können. Technische Neuerungen sollten in Brandschutz- und Haustechnik eine tragende Rolle spielen, die Anforderungen an moderne, dem Zeitgeist entsprechende Bühnen-, Licht- und Audiotechnik sollte eingebracht werden und so als innovative Initiative der Architektur, Nutzung und Bauunterhaltung dienen. Eine neue Herangehensweise ist für die einmalige Kulturerbelandschaft der Theater notwendig, will man die Häuser in ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung und denkmalrelevanten Substanz erhalten und weiterhin das Publikum mit einmaligen Aufführungen begeistern. Die Theater machen es von jeher vor. Dies schließt auch neue Möglichkeiten der beruflichen Spezialisierung und Weiterbildung ein, die über die Duale Berufsausbildung hinausgehen. Hier eröffnen sich neue berufliche Perspektiven und viele interessante Ideen.
Wiechern: Haben Sie mit Nachwuchs- und Fachkräftemangel zu kämpfen und lässt sich identifizieren, woran dies liegt?
Krischer: Ja, das haben wir. Oftmals ist die Vorstellung von Arbeit am Theater auf die Aufführung beschränkt. Die Möglichkeiten, auch kreativer technischer Berufe, sind schlicht nicht bekannt. Vor allem im technischen Bereich gibt es einen Fachkräftemangel, daher entwickeln DTHG und Bühnenverein zusammen zurzeit verschiedene Ideen, um die Aus- und Weiterbildung zu unterstützen. Der Arbeitsplatz Theater muss ins Bewusstsein von jungen Menschen gesetzt werden. Neben dem akademischen Abschluss müssen wir die Duale Berufsausbildung wieder bewerben. Dazu brauchen wir Unterstützer. Berufsberater müssen das Theater und seine Möglichkeiten als Arbeitgeber kennen und vermitteln können. Wie attraktiv ist das Theater als Arbeitgeber? Hier müssen wir ehrlich sein und Lösungen erarbeiten. Aber auch selbstbewusst zu unseren Qualitäten stehen und diese auch benennen. Aus- und Fortbildungsangebote müssen überdacht und neu entwickelt werden. Kooperationen, wie z. B. zwischen dem ZDF und den Werkstätten der Berliner Bühnen, lassen sich vielleicht übertragen und ausbauen. Theater müssen in die Lage versetzt werden, ausbilden und Mitarbeiter qualifizieren zu können. Eine strategische Personalplanung wird immer wichtiger. Lebenslanges Lernen muss auch im Theater möglich sein. Die Qualität der Ausbildungseinrichtungen wie auch der Berufsschulen muss verbessert werden. Zudem müssen Lehrer qualifiziert werden. Auch durch die Förderung von Frauen in technischen Berufen kann Abhilfe geschaffen werden. Wir haben also viel zu tun, aber auch viel Potenzial. Der demografische Wandel wird uns weiter vor Herausforderungen stellen. Wir müssen also handeln. Wenn wir das »kulturelle Erbe Theater« erhalten wollen, dann haben wir keine andere Wahl.
Rohde: Berufsschulen haben verschiedene Probleme, ob bei der Ausstattung der Schule oder Qualifizierung von Berufsschullehrern für besondere Berufe. Die Unterschiede sind teilweise gewaltig. Berufliche Weiterbildung und Spezialisierung müssen ausgebaut werden. Sie müssen die Anforderungen der näheren und fernen Zukunft berücksichtigen und man muss eventuell auch neue Wege beschreiten. Die Interessengemeinschaft Veranstaltungswirtschaft, kurz IGVW, beispielsweise gibt Theatern und Veranstaltungsbetrieben die Möglichkeit, praxisbezogene, an den Notwendigkeiten orientierte Branchenstandards zu setzen. Damit wird es zukünftig möglich sein, umfassend auf die komplexen Neuerungen der Digitalisierung einzugehen und Defizite der Ausbildungen im Veranstaltungsbereich praxisnah einer Lösung zuzuführen.
Wiechern: Über welche Bewerber freuen Sie sich und wen würden Sie in Zukunft gern besonders ansprechen?
Rohde: Kreative, neugierige und mutige Menschen, die in großen, komplexen Teams und Zusammenhängen arbeiten wollen. Junge Fachkräfte, die Verantwortung für sich und andere übernehmen möchten und den Herausforderungen der Zukunft offen gegenüber sind. Diese werden in den kommenden Jahren an Fahrt aufnehmen.
Krischer: Digitalisierung ist auch im Theater ein großes Thema. Das Theater wird sich verändern und somit auch die Anforderungen an die Mitarbeiter. Darauf müssen wir eingehen. Erste Überlegungen dazu gibt es bereits. Das Theater Dortmund plant die Gründung einer Bildungsakademie mit dem Schwerpunkt Digitalisierung. Wir müssen uns überlegen, wie das Theater der Zukunft aussieht, welche Kompetenzen dafür benötigt werden und wie diese vermittelt werden können. Bei über 20 Berufen, die derzeit an Theatern ausgebildet werden, ist der Arbeitsplatz für viele interessant. Neben den typischen handwerklichen Theaterberufen wie Bühnenmaler, Bühnenplastiker und Maskenbildner werden vornehmlich Fachkräfte im technischen Bereich gesucht. Da künstlerische Produktionsprozesse sich durch die Entwicklung in den Bereichen Licht, Ton und Video verändert haben, besteht ein Bedarf an Mitarbeitern im Bereich Bild, Ton, Licht und Veranstaltungstechnik. Da das sogenannte theaternahe Rahmenprogramm mit zahlreichen Veranstaltungen immer mehr zunimmt, gibt es inzwischen auch Eventkaufleute im Theater. Neben Auszubildenden werden vermehrt aber auch Studenten gesucht, die sich für den Studiengang Theater- und Veranstaltungstechnik interessieren. Absolventen der Beuth Hochschule, die diesen Studiengang in Berlin anbietet, werden überall gebraucht.
Rohde: Die Bedeutung von Theatern als Kulturorte, auch im Hinblick auf besondere Berufe, die inzwischen ein Orchideendasein führen, sollte stärker erkannt und honoriert werden. Theater wird, bei allem modernen Streben, ein Ort von Menschen für Menschen bleiben. Das macht auch seine Besonderheit und seine große Attraktivität aus. Wenn wir den Wert unserer Mitarbeiter erkennen, werden wir den Fachkräftemangel im Theater schnell überwinden, denn kein Arbeitsplatz bietet vergleichbare Möglichkeiten, sich kreativ in eine künstlerische Entwicklung mit einer Premiere vor hoffentlich jubelnden Menschen einzubringen.
Wiechern: Vielen Dank für das Gespräch.
Tanja Krischer ist Referentin für Betriebs-wirtschaft beim Deutschen Bühnenverein, dem Bundesverband der Theater und Orchester — Wesko Rohde war Technischer Direktor am Theater Osnabrück und istPräsident der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft — Anna Wiechern ist Referentin für Kultur und Bildung beim Deutschen Kulturrat
ca. 38.000 Menschen sind fest an Theatern und Orchestern angestellt, hinzu kommen noch zahlreiche Gastverträge.